Wir fordern unser Gemeingut zurück

von Starhawk im August 2004 / Übersetzung: Brigitte Hummel

 

Das Gemeingut ist das universelle Erbe der Menschheit und allen Lebens auf dieser Erde. Wir brauchen es für ein gesundes Dasein: für Luft, Wasser, Nahrung, Wohnung, Gesundheitsfürsorge, für die Energiequellen und unser genetisches Erbe. Wir brauchen es für die Erhaltung unserer Kultur: für unsere multikulturellen Traditionen, unsere Bildung, für Information und die Mittel sie zu verbreiten, für Dienstleistung am Menschen, für öffentliche Plätze, Radio und Fernsehen, für politische Freiheiten. Auch das Land, die Wälder, die Ozeane und alle Ökosysteme sind Gemeingut. 

......... Es ist wichtig auch das zu artikulieren, was wir wollen, nicht nur das, was wir nicht wollen.

Was wir nicht wollen, ist völlig klar: die ganze miese Liste von Ausbeutung, Firmenübernahmen, von Rassismus, Sexismus, Klassengesellschaft. Wir könnten uns leicht verausgaben bei dem Versuch an wenigstens einigen der Proteste gegen all diese Missstände teilzunehmen. .......

Was wir wollen, ist weniger klar definiert. Wir haben keine einheitliche Vorstellung davon, wie die Wirtschaft oder der Zehnjahresplan, den wir anstreben, aussehen sollen. Das ist auch nicht nötig. Was wir wollen, ist eine veränderte Sicht der Welt, ein Abrücken von dem Realitätsmodell, das die Welt als gigantische Maschine sieht, eine Hinwendung zu einem Verständnis der Welt als etwas Organischem, Lebendigem, Dynamischem und sich stetig Wandelndem. Diese Sicht führt nicht zu fest gefügten Lösungen oder verordneten Programmen, sondern eher zu experimentellen Versuchen und zu einer Vielfalt vorgeschlagener Lösungen. Diese Sicht ist voll Dynamik, sie sieht, dass jede Lösung, jede Form sich ständig auflösen und erneuern muss, wenn sie lebendig und befreiend sein soll.

Profitsüchtige Konzerne benutzen u.a. die Biotechnologie, um das, was allen Menschen gehört, zu beeinflussen. Diese aggressive Einflussnahme wird hier vielleicht besonders deutlich, weil sie die Bausteine des Lebens privatisiert. Das Patentieren von Lebensformen hat es internationalen Konzernen ermöglicht, die Rechte an und die Profite von traditionellen Heilkräutern und Nahrungspflanzen bis hin zu der Gesamtheit der Gene einheimischer Kulturen für sich zu beanspruchen. Sind sie einmal in die Umwelt entlassen, können veränderte Gene nicht zurückgenommen werden. Zwar wissen wir schon eine Menge über ihre negativen Auswirkungen, aber noch nichts über das ganze Ausmaß möglicher Folgen. Wir sind einem massiven, globalen, unkontrollierten wissenschaftlichen Experiment ausgesetzt, das potentiell schädliche Folgen für unsere Fähigkeit Leben zu erhalten haben könnte. Während Biotechnologie-Konzerne behaupten, dass sie die Armen ernähren, beschäftigen sich die Forschungsabteilungen eben dieser  Konzerne damit Getreide zu züchten, das zu seiner Entwicklung hohe Dosen von Herbiziden benötigt, die genau diese Firmen herstellen. Die Biotechnologie gibt vor Kranke zu heilen und hat in der Tat ein paar wirkungsvolle Medikamente produziert – aber es ist eben diesen Konzernen auch gelungen Forschung über Umweltursachen für Krebs und andere schwere Krankheiten zu hintertreiben. Die gleichen Konzerne, die die Krebs erregenden Pestizide herstellen, verlangen die Dankbarkeit der Menschen dafür, dass sie von den Medikamenten gegen Krebs profitieren.

Trotz all ihres technologischen Glanzes vertritt die Biotechnologie das alte mechanistische Weltmodell, die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Ihre grundsätzliche Prämisse besagt, dass ein Gen einem Wesenszug entspricht, und dass Gene in jeden beliebigen Organismus eingebaut und ihm angepasst werden können wie Schrauben, die ähnlich genug sind, um sowohl in große als auch in kleine Maschinen zu passen. Das mechanistische Modell geht davon aus, dass wir alles über das Universum wissen und es unter Kontrolle haben. Eine Ursache entspricht einer Wirkung - unbeabsichtigte Wirkungen zählen nicht. Das ist ein sehr gutes Modell für die Isolierung einzelner Ursachen und Wirkungen, aber es verhilft uns absolut nicht zum Verständnis komplexer  Beziehungsmuster.

Das mechanistische Modell hat uns Fortschritt gebracht. Ich bin nicht dafür das elektrische Licht oder die moderne Telekommunikation abzuschaffen. Aber wenn dieses Modell überall auf der Welt angewandt wird, kann es großen Schaden anrichten, nicht zuletzt wegen seiner Tendenz  unbeabsichtigte Folgen zu übersehen und die Verursacher nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Dieses Modell hindert uns daran den großen Einfluss, den unser politisches Handeln hat, zu sehen und zu verstehen oder zu merken, wenn dieses nicht funktioniert. Wir besprühen unsere Getreidepflanzen mit 3300-mal mehr Pestiziden als vor dem 2. Weltkrieg und erleiden einen 20% größeren Verlust durch Insektenbefall, unerklärliche Krebs- und mit ihm verwandte Krankheiten, den Verlust an Lebensraum für Tiere und Pflanzen, die Verschlechterung der Qualität von Ackerboden und Flüssen und den Verlust vieler Arten. Trotzdem scheinen wir nicht sehen zu können, dass dieser Umgang mit Landwirtschaft nicht funktionieren kann.

Das Konzept des Gemeingutes erwächst aus einer anderen Sicht der Welt, einer, die der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts von der Komplexität, den Systemen und der Chaostheorie näher steht. Sie sieht die Realität als ein Beziehungsgeflecht von komplexen, miteinander verbundenen Ursachen und Wirkungen, die auf vielfältige Weise und in Zyklen zusammenhängen, die Gleichgewicht erhalten, aber auch stören können. Sie erkennt an, dass  unsere Realität auch rätselhaft ist, dass es große Bereiche gibt, die wir weder verstehen noch kontrollieren können, und dass dieses Rätselhafte unseren Respekt und unsere Bescheidenheit verlangt, oder doch wenigstens unsere genaue Beobachtung, bevor wir an etwas herumpfuschen, das wir nicht wirklich verstehen.

Welche Verbindung gibt es zwischen Fragen der Biotechnologie, der Gleichbehandlung von Rassen, des Krieges, der Umwelt und der Brutalität von Polizisten? Die Idee des Gemeinguts gibt uns eine Sprache , in der wir über die Zusammenhänge reden können, darüber, auf welche Weise die Konzerne Kontrolle über wissenschaftliche Forschung ausüben, darüber, dass die Konzerne unsere Gene in Besitz genommen haben, darüber, wie all das mit einer Handlungsweise verbunden ist, wonach immer ein Teil der Menschheit unterdrückt werden muss, damit andere profitieren können. Letztere müssen schließlich Gewalt anwenden zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung anderer. Und die Idee dieses Gemeinguts gibt uns eine Sprache und Bilder, um darüber zu reden, was wir wollen: eine Welt des fest verankerten Überflusses, in der Unternehmen Teil eines Geflechtes von Beziehungen sind, die die Gemeinschaft bilden  und diesen Gemeinschaften gegenüber verantwortlich sind, eine Welt, in der die Integrität dieses Gemeingutes, das Leben ermöglicht, wichtiger ist als der Profit, eine Welt echter Demokratie, in der alle Menschen eine Stimme haben bei den Entscheidungen, die sie betreffen, eine Welt, in der Kreativität einen hohen Stellenwert hat, und die Klugheit und  Kraft zu Visionen bei allen Menschen fördert.

Wenn wir sagen, dass wir „das Allgemeingut zurückfordern“, fragen uns immer wieder Menschen: “Was ist das denn?“ Und indem wir erklären, was es ist, schaffen wir einen neuen Rahmen, einen, der davon ausgeht, dass es Bereiche im Leben gibt und geben sollte, die einen Wert besitzen, der über ihren Wert als Gebrauchsgüter hinausgeht. „Gemeingut“ bedeutet, dass Gemeinschaft an sich  einen Wert hat, und dass sie nicht einfach eine Errungenschaft von Individuen darstellt. Dazu kommt, dass dieses Gemeingut, das uns wichtig ist, abgebaut und uns genommen wird, und dass wir es zurückholen müssen. Und wir verbinden uns mit dem „Volk“,  nicht mit den Prinzen oder Königen, Kaisern oder Reichsgründern, sondern mit dem einfachen Volk, auf dessen Rücken die Welt errichtet wird, und dessen Rechte jede wahre Demokratie schützen muss. Luft, Wasser, Saat, ein Gedicht, ein öffentlicher Platz, ein Gespräch, ein Heilkraut, ein Baum, eine Blume, ein gesundes Kind – all das ist so selbstverständlich wie Schmutz und doch überaus kostbar, wie der gesunde Schmutz, die Erde selbst, der gemeinsame Boden, der unser Leben erhält.

 

Starhawk ist eine Aktivistin, Organisatorin und Autorin von Webs of Power:Notes from the Global Uprising (Netze der Macht: Notizen über globalen Aufstand) und acht weiteren Büchern über Feminismus, Politik und erdgebundene Spiritualität. Sie arbeitet mit dem RANT Trainer-Kollektiv, www.rantcollective.org, das Training und Unterstützung für Aktionen die globale Gerechtigkeit und Friedensfragen betreffend anbietet.

Die Website von Starhawk ist www.starhawk.org

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